Ein Gastbreitrag von Jennifer Rensch
Viele von uns sind vor drei Wochen hochmotiviert mit den berühmten Neujahrsvorsätzen in den Veganuary, den Dry January oder ins Fitnessstudio gestartet. Inzwischen neigt sich der erste Monat des neuen Jahres zwar bereits dem Ende zu, aber es liegen immer noch über 90% von 2025 vor uns. Und da es nie zu spät für gute Vorsätze ist, möchte ich gerne jetzt, kurz vor der Bundestagswahl, noch einen weiteren Vorsatz vorschlagen. Was wäre, wenn wir uns in den nächsten Wochen und Monaten mal nicht nur den üblichen Verdächtigen wie Gesundheit oder Karriere widmen – sondern etwas, das nicht nur uns selbst, sondern auch unsere Gesellschaft voranbringt?
Neujahrsvorsatz 2025: Mehr Toleranz wagen.
Mein Vorschlag: Lasst uns daran arbeiten, Toleranz wieder stärker als persönlichen und kollektiven Wert in unserem Miteinander zu verankern.
Die sorgenvollen Diskussionen über die zunehmende Spaltung der Gesellschaft dürften an den wenigsten von uns vorbeigegangen sein. Damit einher geht stets eine Diagnose der Krise. Der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft schwinde, unsere Demokratie sei gefährdet. Was bei diesen gesamtgesellschaftlichen Betrachtungen häufig vergessen wird: Spaltung fängt bei jedem Einzelnen von uns an.

Uns ist die Fähigkeit zur Toleranz abhandengekommen
In der Wissenschaft wird zwischen zwei Formen von Polarisierung unterschieden. Ideologische Polarisierung bezeichnet das Auseinanderdriften politischer Meinungen, während affektive Polarisierung negative Gefühle gegenüber Menschen mit anderen Meinungen meint. Aber liegen unsere Meinungen heute tatsächlich weiter auseinander als früher? Und warum reagieren wir überhaupt mit emotionaler Abneigung auf andere Sichtweisen? Ich glaube, es gibt noch einen dritten Aspekt von Polarisierung, der in der Debatte häufig zu kurz kommt: Uns ist die Fähigkeit zur Toleranz abhandengekommen.
Vor einigen Wochen führte ich eine politische Diskussion mit meinem Physiotherapeuten. Es ging um die Wahl in den USA, die Ukraine, die anstehenden Neuwahlen in Deutschland. Nach einigen Minuten erahnte er, welcher Partei ich – in Angela Merkels Worten – „nahestehe“, und meinte daraufhin, wir sollten unser Gespräch besser beenden; andernfalls würde er so wütend, dass er mich in Zukunft nicht mehr behandeln könne. Autsch.
Was ein unglücklicher Einzelfall sein könnte, steht leider nur stellvertretend für Entwicklungen, die ich immer häufiger in meinem Alltag und Umfeld wahrnehme. Freundschaften werden aufgrund unterschiedlicher Parteipräferenzen gekündigt, und in den Wochen vor Weihnachten waren die sozialen Medien voll von TikToks und Reels, in denen die festlichen Verwandtschaftstreffen als nervige Pflichtveranstaltungen mit Unmenschen anderer politischer Gesinnung dargestellt wurden.
Demokratie lebt von Konflikten und Diskussionen
Klar, politische Diskussionen sind aufreibend und können an den Nerven zerren. Aber seit wann fällt es uns so schwer, abweichende Meinungen auszuhalten? Wann ist uns die Wertschätzung von Pluralismus abhandengekommen? Und wann ist die politische Identität unseres Gegenübers zur alles andere überschattenden Charaktereigenschaft geworden, die Freundschaft, Verwandtschaft, Kollegialität und ein allgemein wohlwollendes Miteinander aushebelt?
Demokratie lebt von Konflikten, von Meinungsverschiedenheiten und Diskussionen. Aber Demokratie lebt eben auch von friedlichem Zusammenleben trotz Meinungsunterschieden. Sie lebt von politischer und sozialer Toleranz; davon, dass wir unsere politischen Mitbewerber nicht als Feinde betrachten und Diversität auch im näheren persönlichen Umfeld akzeptieren können. Unsere Demokratie ist nicht gefährdet, weil wir unterschiedlicher Meinung sind, sondern weil wir die Fähigkeit verlieren, konstruktiv mit diesen Unterschieden umzugehen.
Vier Denkanstöße für mehr Toleranz
Am 23. Februar finden Neuwahlen statt. In den nächsten Wochen werden wir von Wahlkampfbotschaften geflutet und vielleicht selbst die eine oder andere senden. Aber so wichtig uns auch Siege für ‚unsere Seite‘ sind, so sollten wir inmitten des politischen Wettbewerbs doch aufpassen, dass wir langfristig nicht alle verlieren, weil wir eines der Grundprinzipien unserer Demokratie mit Füßen treten. Deswegen sind hier drei Denkanstöße für mehr Toleranz:
Politisches Engagement ist erstmal auch ein Engagement für die Demokratie. Es ist ein Versuch, sich einzubringen und die Gesellschaft zu verändern. Und solange das in einem demokratischen Rahmen und mit demokratischer Absicht passiert, können wir uns ja vielleicht trotz aller Differenzen darauf einigen, dass wir hierin etwas gemeinsam haben?
Zuhören statt zuschlagen und verstehen statt verurteilen. Politik wird oft als „Wettbewerb der Ideen“ verstanden. Dieses Bild impliziert jedoch ein Gegeneinander, an dessen Ende Gewinner und Verlierer stehen. Hinzu kommt, dass dieser Wettbewerbsgedanke den ersten Schritt jeder Auseinandersetzung ausblendet: Denn, bevor wir jemanden überzeugen können, und noch lange bevor wir jemanden verurteilen sollten, müssen wir erst einmal verstehen, warum jemand so denkt, wie er oder sie denkt. Und dafür müssen wir bereit sein, zuzuhören.
Kompromisse sind kein Verrat der eigenen Prinzipien, sondern ein Zeichen politischer Reife. Wir leben in einer Konsensdemokratie und sind auch in Zukunft auf politische Koalitionen angewiesen. Verhärtete Fronten und rote Linien innerhalb der politischen Mitte manövrieren uns in politischen Stillstand. Kompromisse hingegen schaffen Lösungen, die zwar vielleicht nicht perfekt sind, aber gemeinsamen Fortschritt ermöglichen. Das sollten wir uns immer wieder vor Augen führen, wenn wir dazu tendieren, unversöhnlich auf unseren Standpunkten zu beharren oder andere für ihre Kompromissbereitschaft zu verurteilen.
Toleranz ist nicht grenzenlos. Dieses Plädoyer sollte in keiner Weise als ein Aufruf zur Akzeptanz von Extremismus, Menschen- oder Demokratiefeindlichkeit gelesen werden. Aber eine klare Kante ist eben nur dann etwas Wert, wenn nicht alle Ränder unserer eigenen Blase mit roten Linien zementiert sind. Deswegen sollten wir uns nochmal Gedanken machen, wo genau die Grenzen dessen verlaufen, das wir zu tolerieren bereit sind – individuell wie auch als Gesellschaft.
Toleranz ist eine stille Heldin. Sie ist zurückhaltend und unaufdringlich. Sie ist nicht so aufregend wie dramatische Auseinandersetzungen und wird nicht mit großem Applaus gefeiert. Aber wir brauchen sie – und genau deswegen verdient sie unsere Aufmerksamkeit.
In diesem Sinne: Auf ein toleranteres 2025!
Foto: Unsplash / Helena Lopes
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